HC - Die Biografie

 

Peter Niebaum

Ein Gerechter unter den Völkern

Hans Calmeyer in seiner Zeit (1903 - 1972)

 

 

Das "Biogrämmchen“ von 1988 (s. Literaturbericht) beruhte auf den Calmeyer betreffenden Passagen bei Presser und de Jong, der Ausbeute einer Archivreise nach Amsterdam und den Aussagen relativ weniger Osnabrücker Zeitzeugen, Freunde, Bekannten Calmeyers sowie besonders seines Sohnes Peter.

Das Ergebnis war eigenwillig allein in seiner antichronologischen Anlage, i.ü. ein recht bieder-steif-ledernes zeitgeschichtliches Riemchen, dem Stil nach und in der braven Art, wie es den formalen Ansprüchen historischer Wissenschaftlichkeit gerecht werden sollte. Ein sehr vorläufiges Heldendenkmal.

Ganz anders die Voraussetzungen der Arbeit, seit mir um die Jahreswende 1991/92 der unerwartet umfangreiche und vielfältige Nachlass zugänglich wurde, den freilich Sohn Peter nach eigenem Bekunden von einigen "allzu kompromittierenden“ Bestandteilen gereinigt hatte. (Jammerschade!) Ein Tagebuch des Jenaer Studenten, viele Briefe, Gedichte in großer Zahl, Sammelmappen mit Zeitungsausrissen u.a.m. - hinzu kamen später noch mehrere Photoalben: da erstand ein Mensch aus Fleisch und Blut, herunter von dem Denkmalssockel.

 

Dass Hans Calmeyer ein homo literatus war, ein Viel- und Allesleser von geradezu berserkerhaften Kapazitäten, zudem ein hochgebildeter, vielseitig interessierter Mann mit einem leicht bohèmienhaften Spleen ins Antibourgoise: all das bestätigte sich nun im Detail, war zu vertiefen, zu konkretisieren.

Und diese Persönlichkeit verlangte nach anderem als nach einer fachhistorisch-biographischen Darstellung. Hier musste literarischen Ansprüchen zumindest ein gewisses Genüge getan sein. Diese Einsicht, Ansicht bestimmte die Konzeption der Biographie vom Grund her, von Anfang an. Das Rettungswerk - gut und wichtig, ohne jeden Zweifel. Aber dieser Mensch -  dieser Mann : eine Persönlichkeit solchen Kalibers, dass, was er in den Niederlanden hatte tun und leisten können, eigentlich " nur“ als eine freundliche Dreingabe erscheint, eine, diesenfalls, allerdings quasi selbstverständliche.

Über Jahre hin: weitere Archivreisen (mehrmals Amsterdam, einmal Potsdam, damals Sitz des Bundesarchivs), immer mehr, teils neue, teils wiederholte, vertiefende Interviews mit schließlich weit über hundert Zeugen.

Durch z.T. auch ausgiebigere Zitate wollte ich mich einiger gewichtiger Ko-Autoren versichern: Karl Jaspers', des Philosophen, an dem polit-moralisch Calmeyer Maß genommen; Werner Fincks, des kabarettistischen Spaßvogels, der als Beobachter und Kommentator die Ära Hitlers wie die Adenauers kritisch begleitet hat; Robert W. Kempners, der als Nebenkläger in dem Münchener Strafprozess gegen die Schreibtischtäter in den besetzten Niederlanden aufgetreten ist; Karl Lilienthals, der Osnabrücker Bombenkriegsschrecken eindrucksvoll seinem Tagebuch einverleibt hat; Richard-Mathias Müllers, dessen “Dialoge über Deutschland“ zwischen einem bornierten Sohn und seinem kritischeren Vater Zustände der restaurativen Phase des frühen Nachkriegswestdeutschland authentisch widerspiegeln, ­ nicht zuletzt aber selbstverständlich Hans Calmeyer selbst: aus dessen vieles die Weitergabe verdiente, dessen Gedichte in seiner Biographie so wenig fehlen durften wie in seinem Leben selbst.

So wuchsen Stoffberge heran. Es schwoll. Es türmte sich.

Die aufgehäuften Massen zu Papier zu bringen ermöglichte mir ein Werkvertrag mit der Stadt Osnabrück. Diese zahlte mir, vom August 1995 bis zum Januar 1996 vom Lehrerberuf beurlaubt, mein Gehalt; wofür ich, Vertragsnehmer, eine "umfassende Biographie“ Hans Calmeyers zu liefern hatte.

Ganz war das innerhalb der sechs Monate (während derer, apar(a)te Marginalie, ein Anbau zu unserem Wohnhaus errichtet wurde: schöne Koinzidenz der Konstruktivität!) nicht zu schaffen (und ohne die jahrelangen Vorarbeiten natürlich überhaupt nicht).

Immerhin aber lieferte ich Buch um Buch, von I bis VI, bei nur geringfügiger Dehnung des Zeitrahmens, die letzten Teile des Textes dann im Sommer 1996 ab. Er war, unter dem vieles legitimierenden (Unter-) Titel "Hans Calmeyer in seiner Zeit“, auf weit über 1000 Druckseiten angewachsen. Zum blanken Entsetzen der Auftraggeber. Das war doch viel zu viel! Und viel zu unkonventionell! Das hatte man nicht gewollt! (Im Vertrag freilich auch nicht ausgeschlossen.)

Die Suche nach einem Verlag: ein so schwieriges wie längliches Unternehmen. Viele Klagliedstrophen wären anzustimmen zum Verlagswesen der BRD, zur längst fluchwürdigen Unterhaltungs- (nicht einmal mehr Kultur-) Industrie, unter deren Diktat Qualität nahezu keine Rolle mehr spielt. Quote, Auflage müssen "stimmen“, rentierlich sein. Also Werbung Werbung Werbung. Idealistisch anspruchsvolle Kleinstverlage gibt es zwar noch, aber das große Geschäft mit immer mehr gekauften (und immer weniger gelesenen) Büchern (und Zeitungen) läuft bei Holtzbrinck oder Bertelsmann, die den sogenannten Markt beherrschen. Und wissen, was die Alchemisten des Mittelalters nie geschafft haben: wie aus Fäkalien Gold zu machen sei.

Symptomatisch für den Literaturbetrieb die Auskunft eines Verlagslektors in München: "...können wir ihre Karl-Marx-Biographie leider nicht in unserem Programm aufnehmen.“
(Lektor heißt übrigens immer noch "Leser“.)

Was tun? Das Ganze dreiteilen? Ein Verlag in Mainz zeigte Interesse. Bis seine Lektorin mitteilte: "Also: so geht das natürlich überhaupt nicht.  Aber für 20.000 DM lässt sich was draus machen.“ Och nee, das denn doch lieber nicht.

Eine Berliner Kleinverlegerin zeigte literarischen Riecher, mitteilend: "Ich sage nur Joyce“. Der aber nur wenige Fragesätze tatsächlich inspiriert hatte; der Autor weiß sich eher anderen Giganten epischer Narration verpflichtet, Heinrich von Kleist etwa, Alfred Döblin, Uwe Johnson.

(Also jedenfalls kein Zufall, wenn Kritiker konstatierten, der Sprachstil der Biographie sei "gewöhnungsbedürftig“. Sie hat demzufolge zumindest einen (- oder mehrere?).)

Das Buch, sein Thema, sein Autor gerieten vollends in die Schusslinie einer eher argwöhnisch lauernd formalistisch-pseudoszientistischen als wirklich sachkompetenten Kritik, als ein niederländischer Historiker Calmeyers Rettungswerk für schlicht null und nichtig erklärte. Die völlig unhaltbare Extremauffassung eines hyperpatriotischen, traumatisierten Außenseiters, der nach eigenem Bekunden die gesamte Thematik "Deutsche Besatzung der Niederlande“ nur noch "schwarz in schwarz“ ­ und also doch wohl kaum klar oder gar überhaupt nicht mehr zu sehen vermochte.

Die Stadt gab für viel Geld Gutachten in Auftrag, die nichts wirklich klärten. Eine niederländische "Calmeyer-Jüdin“ stiftete eine Million Gulden für Forschungen zum Thema Hans Calmeyer ­ dem NIOD in Amsterdam. Während die Arbeit in Osnabrück getan wurde. Im Wesentlichen ehrenamtlich, kostenfrei, in der längst üblichen Selbstausbeutung ­ keineswegs nur des Biographen, der vielmehr idelle Unterstützung erfuhr v.a. aus den Kreisen der "Hans Calmeyer-Initiative“ (HCI e.V.),ohne die er schwerlich hätte durchhalten können.

Das Buch wurde, nach Maßgaben des Rasch-Verlages, einem zweifachen Lektorat unterworfen, sollte schließlich von drei für seriös angesehenen Persönlichkeiten herausgegeben, also auch: verantwortet werden, nämlich von PD Dr. Rolf Düsterberg, dem Kulturreferenten der bayerischen Landeshauptstadt a.D. Siegfried Hummel und Prof. Dr. Tilman Westphalen.

Nach monatelangen Streichquintettsitzungen und Kürzungsoperationen, die tatsächlich nicht zuletzt dem Autor ein hohes Maß an Leidenfähigkeiten (B. Strebe, HAZ 26.03.02) abverlangten, erschien das Buch im Oktober 2001 im Rasch-Verlag. Eine erweiterte und im Druckbild deutlich verbesserte Neuausgabe war zu Calmeyers 100. Geburtstag Ende Juni 2003 auf dem Markt.

Das Echo auf das (nicht "beworbene“!) Buch bzw. sein Thema war bislang eher dürftig. In der überregionalen Presse gab es anlässlich des 100. Geburtstages Calmeyers und der damit verbundenen Ausstellungseröffnung größere Artikel in der WELT, der taz, sowie regionale Würdigungen im Rundfunk und Fernsehen.

Besprechungen zum Buch sind nur in sehr speziellen Zeitschriften erschienen, so mehrfach eine freundliche, zustimmende von Heiner Lichtenstein (Köln), u.a. in der Mitgliederzeitschrift des Vereins "Gegen Vergessen ­ für Demokratie“. Eine Kritik war im WDR-Rundfunk zu hören.

Dem Autor sehr viel bedeutsamer, als alle noch so wohlmeinenden Rezensionen das je sein könnten, sind die uneingeschränkte Anerkennung durch den Nestor der niederländischen Zeitgeschichte, Prof. Louis de Jong ("Ein Monument!“), und seitens einiger Zeitzeugen, die Hans Calmeyer aus nächster Nähe selbst noch erlebt haben und dem Biographen bestätigen, er habe "seinen“ bzw. "ihren Mann“ ausnehmend gut, ja geradezu unwahrscheinlich genau getroffen. Das aber heißt ja wohl: Die Informanten waren zuverlässig, und das Einfühlungsvermögen des Autors zureichend.

Sehr glücklich traf es sich, dass ein Osnabrücker Jurist, Mathias Middelberg, unter rechtshistorischen Aspekten am Thema "Rettungswerk“ Interesse nahm und seine Dissertation 2002 abschließen und vorlegen konnte. Diese vorzügliche Arbeit ergänzt die Biographie für die Zeit zwischen 1941 und 1945 auf der Basis umfassenden Aktenstudiums und kenntnisreicher juristischer Komparatistik.

Sensible, gar (noch) literarisch kompetente Leser werden einsehen gern und leicht: Eine Calmeyer-Biographie musste so geraten (oder so ähnlich) wie die vorliegende ­ anders war, anders ist diesem Menschen nicht wirklich gerecht zu werden.

 

Peter Niebaum, 10/03

Peter Niebaum: Ein Gerechter unter den Völkern. Hans Calmeyer in seiner Zeit (1903-1972)
Zweite, erweiterte, korrigierte Aufl. 2003
rasch/ISBN 3-89946-002-2/492 S./34,90€